Rezension zu "Der entfesselte Globus"
von Ilija Trojanow
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Tatsächlich lässt sich in diesem Strauß sehr lesenswerter Kurzprosen doch ein allgemeines Ordnungsprinzip erkennen; Trojanow selbst gibt im Schlussteil einen 'Wegweiser' zum Verständnis: Programmatisch wirken in 'Indras Netz' Einzelnes und Ganzes zusammen, wobei das Gemeinsame alles vordergründig Unterscheidende überformt, das nach altindischer Auffassung illusionär ist. Das Gemeinsame der Menschen liegt neben der Biologie u.a. vor allem in ihrer Kulturfähigkeit begründet. Hier finden die positiv gestimmten Texte zu exotischer Literatur ihren Ort.
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Freilich handeln die meisten Beiträge von Ausgrenzung: Wer ausgrenzt, überdehnt Indras Netz, bringt Maschen zum Zerreißen und wirkt Unheil, hier meist in postkolonialer Überhebung.
Wo indes eine gewachsene Kultur sich selbst entfremdet, gleich ob unter fremdem Druck oder aus innerer Schwäche, entstehen ähnliche Schäden.
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So verkommt sogar in Indien Religiöses zu Leerformeln des Marketings: Auf dem 'spirituellen Markt' verkaufen fragwürdige Gurus ihren Anhängern 'knitterfreie Designerreligionen', die auch massenhaft einheimischen Zulauf finden: have an aarti, have a bite!
Allerdings überfordert der wichtige, zuerst in Indien erschienene Essay 'Götter klonen, Strichcodes lesen' Leser ohne Kenntnis des Hinduismus; zumindest hätten einige unglückliche Übersetzungen behoben werden müssen, und nachgereichte Anmerkungen wären angebracht.
Einerseits steht die missverständliche Metapher des Klonens für die 'ultimative Bewahrung des Status quo' im Sinne immer gleicher Reproduktion von leblos-künstlichen Abziehbildern, andererseits ungeistige Erstarrung, bloßes Axiom statt lebendiger Wahrheit.
Genaueres findet sich unter V. Standpunkte: Trojanow auf meiner Webseite (vgl. Profil).
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Sich selbst grenzt aus, wer ' wie eine Popsängerin ' andere respektlos instrumentalisiert, mehr noch, wer andere als seine Opfer ausgrenzt, und hier finden die Beiträge zu Bulgarien ihren Ort, allesamt Anklagen gegen brutale Gewalt und Unmenschlichkeit. Die dringliche Aufarbeitung der Vergangenheit (und Gegenwart!) unterbleibt, kaum einer wurde zur Rechenschaft gezogen. Den EU-Politikern scheint dies gleichgültig, die Folgen, nicht nur für Indras Netz, bedrohen uns alle.
Verständlich, dass die Bulgarien-Dokumentationen in ihrem Engagement nicht die Kunsthöhe anderer Texte erreichen, unter denen einige in Literatur umschlagen und immer wieder das Poetische einholen und dann alle Stärken von Trojanows Bildsprache zeigen. So findet man Parabel, Satire, Groteske, und fast alles dient gleichnishaft übergreifenden Zusammenhängen. Nichts steht also für sich allein, und darin übertrifft der Autor seine Vorbilder:
So bietet S.119 keinesfalls eine Anekdote, sondern der amerikanische Botschafter erweist sich entgegen seinen Lippenbekenntnissen als wahrer Stellvertreter unseliger Politik.
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Es geht Trojanow um 'empathische Annäherung', 'existentiellen Erkenntniswert', und er zielt auf eine 'höhere Ebene der Wahrheit'(S.188), um ihretwillen durchdringt vereinzelt Fiktion den dokumentarischen Bericht, denn wer heute noch 'objektive Realität' fassen will, der trügt notwendig.
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Auf seine Weise führt Trojanow 'engagierte Literatur' aus der Tagesaktualität heraus in Modelle weit längerer Haltbarkeit, man darf gespannt sein, ob so neue Formen entstehen...
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Wer wie mancher Lohnkritiker in diesem Band eine Resteverwertung zum ''Weltensammler'' sieht, bekundet nur sein Unverständnis des großen Romans, denn diese selbständigen Texte teilen allenfalls einzelne seiner Schauplätze.
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