Alles gelogen I. von Stein und Eisen (16)
16. Kapitel
Reisetagebuch USA und Mexico.
Jenny ist einem Ruf nach New York zu den Vereinten Nationen gefolgt. Als Katastrophenhelferin ist sie international gefragt, und wir müssen sie ziehen lassen. Leider hat sie nur Isa mitgenommen, weil Benni sich als unentbehrlicher Helfer für den Onkel erweist. Ein technisches Ausnahmetalent. Behauptet jedenfalls der Onkel.
Seit vier Wochen hetzt er uns drei von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Ein Wettlauf mit der Zeit, wie zu betonen er nicht müde wird. Wenn wir den Nachrichten aus Europa und Asien glauben dürfen, hat er sogar recht mit seiner Einschätzung. Lauter Hiobsbotschaften erreichen uns seit einigen Tagen: Die blaue Moschee in Istanbul ist zerstört, ebenso der Top Kapi Palast. An der Hagia Sofia haben sie sich allerdings die Zähne ausgebissen. Sie steht, hat nicht mal gewackelt, obgleich um sie herum eine Menge Trümmer liegen. Produziert von den anonymen Zerstörern bei mehreren Angriffen. Wir erleben den Onkel im Triumph einer gewonnenen Schlacht: „Das ist der Beweis. Mein Schutzfilm hält. Ihr seht, meine Firma arbeitet erfolgreich und seit gestern explodieren die Aktienkurse.“ Theo bleibt trotzdem skeptisch und zitiert unsere Mutter: „Wie sagte Jenny kürzlich? Der Teufel scheißt auf den größten Haufen.“ Wer der Teufel ist? Natürlich nicht der Onkel. Gemeint ist sein Glück, vielmehr sein Profit im Bund mit dem Teufel. Onkel Baldur, der Glückspilz!
Oder: Die Reichen werden immer reicher.
Was sagt Theo dazu? „Wir befinden uns in einem Krieg und kennen den Gegner nicht. Wir wissen nicht, gegen wen wir kämpfen, wissen immer noch nicht, mit welchen Waffen wir ihn schwächen, geschweige denn besiegen können. Der Schutzfilm ist eine reine Abwehrmaßnahme, und wir wissen nicht, wie lange er hält. Vergesst nicht, eine gewonnene Schlacht bedeutet noch lange nicht den Sieg.
Canada haben wir in den ersten fünf Tagen erledigt: im Osten Quebec mit dem berühmten Chateau Frontenac, ein Riesenhotel. Hat mich mächtig beeindruckt. Dann den CN Tower von Toronto und zuletzt im Westen Vancouver mit dem großen Royal British Columbia Museum. Die meiste Zeit waren wir im Grünen unterwegs zwischen verstreuten Zeugnissen menschlicher Kultur und Zivilisation. Für Baldurs Geschmack gibt es in Canada zuviel Natur.
In den USA trafen wir gleich an der ersten Station auf einen amerikanischen Wissenschaftler, oder er auf uns, klar ist uns das bis heute nicht, und je länger wir darüber nachdenken, desto mehr erinnert uns das an unser erstes Zusammentreffen mit Hans Haarig alias Peter Pelzig in Berlin. Jack Burne, so heißt der Knabe, wenn sein Name stimmt. Schlank, um nicht zu sagen mager, blonder Kurzhaarschnitt und mindestens einen Kopf größer als Theo und Baldur. Cooler Typ. Im Vergleich zu den beiden scheint er noch ziemlich jung. Keine 30, schätzen wir, aber schon mit 25 mehrfacher Millionär, wie er so nebenher betont, dass es auch jeder mitbekommt. Die erste Million vor dem Collegeabschluss. Da war er in Silicon Valley bei zwei Start up Unternehmen dabei. Verkauf mit Riesengewinn. Danach als Broker, Finanzberater, Theo meint eher Finanzhai in New York. Spekulierte dort erfolgreich auf weltweit steigende Lebensmittelpreise. Wieder nach Kalifornien zurück in die Computerbranche. Gastspiele an der Wallstreet. Nach seinen Worten fallen da regelmäßig einige Millionen für ihn ab. Wow! Wenn er sich mit Baldur unterhält, fliegen einem Begriffe wie Hedgefonds, Assets, Stocks, Shareholder Value etc etc nur so um die Ohren. Jack Burne - entweder superschlau oder ein großer Angeber. Theo und ich glauben letzteres und sind uns sicher, Jenny würde an die Decke gehen, wenn sie hier wäre. Vor allem ihm wegen der Lebensmittelspekulation eine Gardinenpredigt halten, die sich gewaschen hat. Baldur verteidigt ihn: brillanter Geist, ist mir bei der ersten Begegnung bereits aufgefallen.
Und Benni? Das ist die größte Überraschung. Benni folgt ihm wie ein Hündchen auf Schritt und Tritt. Jeder zweite Satz bei ihm beginnt mit „Jack sagt“, „Jack meint“, „Jack weiß“ Die Leidenschaft für Computertechnik scheint die beiden zu verbinden.
Die erste Begegnung fand übrigens am Mount Rushmore statt, dem Felsen mit den Präsidentenköpfen Wir hatten in der vergangenen Woche New York abgeschlossen: die Freiheitsstatue, das Empire State Building, die Brooklyn Bridge, das Verwaltungsgebäude der Vereinten Nationen am Hudson River. Nicht schön, aber groß und wichtig. Nicht zu vergessen die großen Museen der Stadt, das Museum of Modern Art, das Guggenheim Museum, das Metropolitan Museum of Art. Allein das Metropolitan besitzt 2 Mio Werke. Über deren Ewigkeitswert waren wir uns einig. Auch über Boston und seine Museen, das Old State House von 1713 und Sitz der britischen Kolonialregierung, die USS Constitution, das älteste Kriegsschiff der US Navy. Alles untrennbar mit der amerikanischen Geschichte verbunden; und was wir in unserem Zeitplan nicht mehr unterbrachten, hat der Onkel für seine Firma - die mit den Schutzfilmen - notiert, z.B. das Mark-Twain-Haus in Hartford, Cape Canaveral mit dem Kennedy Space Center und Caesars Palace auf dem Las Vegas Strip. Zu anderen Zielen gab es Diskussionen, um nicht zu sagen Zoff zwischen den Brüdern und mir. In Cleveland haben wir die Rock'n Roll Hall of Fame auf Wunsch von Theo für die Ewigkeit gesichert. Baldur zog nicht so richtig und wäre am liebsten weiter nach San Francisco geflogen. Sein Credo: Nur das Wichtigste sichern, nicht jeden architektonischen Furz am Wegrand. Wie sich herausstellte kam der Auftrag von Jenny, die uns mit Liebesentzug gedroht hat, wenn wir ihrem Wunsch nicht entsprechen. Sie ist ein treuer Fan des King of Rock'n Roll, weshalb wir anschließend auch Graceland konservieren mussten, Elvis Presleys sagenhaft kitschige Villa in Memphis Tennessee. Das meist besuchte Haus der USA, wie Theo uns erklärte. Ebenfalls bewahrt für alle Zeit. Beim Rundgang durch die opulent ausgestatteten Räume hat er zwar das Gesicht mehrmals schmerzhaft verzogen, aber Jennys Wunsch ist uns Befehl. Jedem seinen persönlichen Geschmack, und die Zukunft möge ihr Urteil fällen. Wahrscheinlich ließ Theo sich deshalb zu einer versöhnlichen Schlussbemerkung herbei. „Bei Licht gesehen ist das bayrische Neuschwanstein auch nichts anderes als dieses Graceland. In den Farbtopf getauchter, in Stuck und Stein verwandelter Traum eines einzelnen Menschen. Genau wie Ludwigs goldener Salonwagen im Nürnberger Eisenbahnmuseum. Sein Neuschwanstein auf Rädern. Und seien wir ehrlich, Kitsch kann schön sein, egal ob aus falschem Bewusstsein oder spielerisch entstanden.“ Kitsch oder nicht. Baldur hat Ludwigs goldenen Wagen längst gespeichert, wie das ganze Eisenbahnmuseum, weil er findet, für die Zukunft unbedingt erhaltenswert. „Hören wir auf zu streiten und haben uns wieder lieb.“ Theos Schlusswort. Wie er das sagt mit segnend erhobenen Händen: das reinste Wort zum Sonntag.
Mount Rushmore ist auch so ein Streitpunkt. Wir erreichen ihn früh am Morgen. Wegen der angenehmen Temperaturen und weil nur wenige Touristen unterwegs sind. Gaffen zu den Präsidentenköpfen hoch und streiten wieder einmal über den künstlerischen Wert. Vor allem, ob sie erhaltenswert sind. Ich finde nicht. Da hat der Onkel mich streng korrigiert. Ob künstlerisch wertvoll oder nicht, gehe uns Europäer nichts an. Die aus dem Fels modellierten Köpfe gehörten zur amerikanischen Geschichte und seien deshalb zu bewahren. Punktum. Dieser Jack Burne war nicht weit von uns gestanden, hatte die ganze Zeit lange Ohren gemacht und uns schließlich angesprochen. Wahrscheinlich hatte er gespannt, dass unsere Aufnahmeapparaturen sich von normalen Kameras unterscheiden, und wollte mehr darüber wissen. Von unserem Plan, wichtige amerikanische Kultur- und Technikdenkmäler aufzunehmen, ist er begeistert, erzählt, dass er einen ganz ähnlichen Plan verfolge, weshalb wir ein Team bilden sollten. Das hat uns noch gefehlt, einen wildfremden Amerikaner in unser geheimes Vorhaben einzuweihen. Leider lässt er sich nicht abwimmeln, und weil „Jack Burne ein schlauer Kopf ist, uns ständig „intellektuell zu fordern weiß“ - Originalton Baldur - hat sich der Onkel auf die Gesellschaft eingelassen. Bisher. Gestern waren wir in San Francisco, haben einige der älteren Gebäude und natürlich die Golden Gate Bridge aufgenommen. Sogar für eine Fahrt mit dem Cable Car blieb uns Zeit, bevor wir zur letzten Station auf amerikanischem Boden aufbrachen: das Getty Center bei Los Angeles. Abends im Hotel bei kalifornischem Rotwein (Cola für Benni und mich) kam Jack ins Sinnieren und ließ uns einen Blick in seine Gedankenwelt tun, abseits von Börsenkursen und PC Technik. Da kriegten wir das Gruseln. Schuld war der Onkel, vielmehr seine Erwähnung der Mayo-Klinik, wo Renata behandelt wird. Ich sehe die Szene vor mir: „Stopp, Baldur!“ Jack fasst den Onkel am Arm, was der gar nicht mag und will mit ihm über die Mayo-Klinik reden. Kein Wort mehr zu künstlicher Intelligenz und autonomen Systemen. Nur ein Rattenschwanz von Fragen zu Behandlungsmethoden der Klinik. Der Onkel erzählt ihm, was er über die Mayo-Foundation weiß, deren oberstes Leitbild das Wohl des Patienten ist, eine Non Profit Organisation, die er seit Jahren unterstützt. Fragt nach dem Grund für Jacks Interesse, während beide ein Glas nach dem anderen leeren. Was jetzt folgt, kann ich mir nur mit dem Wein erklären. 13,5% Alkohol, eine ganze Menge und für Jack wohl zu viel. Too much. Jack macht ein trübsinniges Gesicht und stützt seinen Kopf in einer Hand, während die andere sich am Weinglas festhält.
„I need help.“ wir sagen nichts, vielleicht, weil wir damit nicht gerechnet haben bei einem Alleswisser und Alleskönner wie Jack. Er muss das als Aufforderung verstanden haben und beginnt zu erzählen. Seit Monaten spiele er mit dem Gedanken, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, schreckt aber vor den Konsequenzen zurück. Er fürchtet, seine Freiheit zu verlieren. Warum? Seit vielen Jahren nämlich quälen ihn Alpträume und Zwangsvorstellungen, anfangs nur alle paar Monate, vielleicht einmal im Jahr, dann immer häufiger und dringlicher, als verberge sich eine Botschaft dahinter, eine Aufforderung zum Handeln. Wann es begann? An das erste Mal erinnert er sich genau. Es war vor seinem 10. Geburtstag, als er zusammen mit seinen Eltern das Geschehen von 9/11 am Fernseher verfolgte. Eigentlich hätte er an dem Tag in der Schule sein müssen, aber wegen einer fiebrigen Erkältung hatte seine Mutter ihn entschuldigt, und er sah vom Wohnzimmersofa aus fern. Bekam alles von Anfang an mit. Live. Ihr kennt die Bilder. Der Flieger hinein in den ersten Turm. Feuer und Qualm. Panik. Die aufgeregten Kommentare. Danach die Szene in ständiger Wiederholung wie in einer Endlosschleife: Wieder und wieder stürzt der Flieger in den Turm und er kapiert nichts. Anstelle des Flugzeugs plötzlich Feuer und Qualm, eine riesige Qualmwolke, wie er sie noch nicht gesehen hat. Er rückt näher, starrt uns drei an, als wollte er uns hypnotisieren, redet immer hektischer.„Oh boy!
Erst als das zweite Flugzeug ins Bild kam, schief, torkelnd wie von einem betrunkenen oder unerfahrenen Piloten gelenkt, den zweiten Turm traf. Da begann ich zu begreifen. Der Angriff auf die Twintowers, die Symbole von Macht und Reichtum, von unserer Lebensart, ein unfassbares Drama und eine amerikanische Tragödie mit über 3000 Toten, kurz ein Angriff auf mein Land.“ Wir sagen nichts, starren nur zurück und lassen ihn weiter reden: „Über Stunden ließen mich die Bilder nicht los, und am Abend hatte ich Mühe einzuschlafen. Aber was kam, war schlimmer, weitaus schlimmer. Mein erster Alptraum. Wieder sah ich die Türme einstürzen, ein Höllensturz in quälender Langsamkeit. Aber statt Entsetzen spürte ich Freude und Genugtuung. Das beruhigende Gefühl, dass andere für mich diese Aufgabe erledigt hatten. Für mich! Bitte versteht mich. Ich bin ein patriotischer Amerikaner, glaube an mein Land. Als Kind habe ich zu Unterrichtsbeginn mit Inbrunst die Nationalhymne gesungen. Jeden Morgen, die rechte Hand über dem Herzen. Und jetzt dies. Es war zu schrecklich, als dass ich mit irgendjemand darüber hätte sprechen können. Meine Eltern dachten, die furchtbaren Ereignisse seien schuld an meiner Verhaltensänderung. Irgendwo hatten sie sogar Recht, nur anders als sie glaubten. Tagsüber litt ich mit den Überlebenden, spendete sogar mein Taschengeld für die Familien der toten Feuerwehrleute. Ich bewunderte sie - Helden der Pflichterfüllung - erklärte meinen festen Willen, später den Beruf des Feuerwehrmannes zu ergreifen. Dabei lagen meine Begabungen nicht bei Rettungseinsätzen, egal bei welchen Katastrophen, sondern eher bei der theoretischen Durchdringung physikalischer und chemischer Gesetzmäßigkeiten, die solche Katastrophen auslösen. Ich wurde Wissenschaftler.“
„Aber die Alpträume...“ „Kamen nicht wieder. Jedenfalls nicht sofort, nicht in den folgenden Wochen, obwohl ich mich jeden Abend zu wappnen suchte, Angst hatte vor dem Einschlafen, oft übermüdet und zu spät einschlief, am nächsten Morgen wie gerädert aufwachte und trotzdem erleichtert war über jede traumlose Nacht. Die schrecklichen Bilder waren fort, und ich vermied den Anblick der einstürzenden Twintowers in Dokumentationen und Wiederholungen.“ „Dann hat die Zeit deine Wunden geheilt.“ „Dachte ich auch, bis zu den nächsten großen Terroranschlägen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese sich in Afrika, Asien, Europa oder bei uns in Amerika ereignen. Mit den großen Anschlägen kamen die Alpträume zurück. Tagsüber spendete ich für die Hinterbliebenen, nachts im Traum überwältigte mich Genugtuung, eine grässliche Freude über das Geschehen.“ „Jack, du bist ein Terrorist. Zumindest in deinen Träumen.“ Er wehrt ab. „Über die toten Menschen freue ich mich nicht; indes, sie bekümmern mich auch nicht, Kollateralschäden, nicht beabsichtigt und nicht zu vermeiden. Das widerspricht den Absichten von Terroristen. Die wollen so viele Menschenleben wie möglich vernichten und betrachten zerstörtes Material eher als Kollateralschaden. Verkehrte Welt.“ Er fährt mit hektischen Fingern durchs Haar, als wollte er mit den wirren Strähnen auch seine Gedanken bändigen. „Versteht ihr, was ich meine? Mich interessieren weniger die Menschen als ihre papiernen, steinernen und eisernen Schöpfungen, ohne die unsere Welt nicht denkbar ist. Terroropfer lassen mich relativ kalt. Wenn aber in einem perfekten technischen System zwei Züge durch menschliches Versagen zusammen stoßen, wenn ein Kapitän sein mit allen technischen Schikanen ausgerüstetes Schiff leichtfertig auf eine Klippe steuert, oder ein Selbstmordpilot seinen voll besetzten Flieger zum Absturz bringt, wenn Kriegsparteien im Nahen Osten ihre Städte und antiken Stätten mit high tech Waffen zerstören, dann triumphiert etwas in mir, das ich rational nicht erklären kann. Triumph, als ich zufällig las, dass beim Einsturz der Zwillingstürme auch ein Modigliano Originalgemälde vernichtet wurde. Als rechtfertige dies bereits den Anschlag. Triumph über die Säureattentate eines Verrückten in europäischen Museen.“ Gehetzter Blick: „Bin ich etwa auch verrückt?“ „Hast du mit einem Psychotherapeuten darüber gesprochen?“ „Wollte ich und hatte mir schon einen Termin bei einer sogenannten Koryphäe seines Fachs geben lassen. Da überraschte mich die nächste Stufe.“ „Stufe?“ „Nun ja, Stufe der Eskalation. Ich freue mich nicht nur über Zerstörungen, die Andere anrichten, ich will selbst zerstören. Paläste, Kirchen, Tempel, Fabriken, Brücken und Viadukte, Museen, Verkehrswege, sogar Friedhöfe. Musikinstrumente zerstören, Säure gießen auf berühmte Gemälde, Bibliotheken in Brand setzen. Egal. Es ist wie ein Todestrieb, der mich beim Anblick überkommt; manchmal schon beim Gedanken daran.Täglich muss ich meine ganze Kraft aufwenden, um dem Drang zu widerstehn. Ich brauche Hilfe und habe Angst, dass sie mich wegsperren..“ „Jetzt verstehe ich, warum du dich für die Mayo-Klinik interessierst. But Godness gracious, Jack, warum um Himmels willen begleitest du uns zu den Schöpfungen menschlicher Ingenieurkunst und Schaffenskraft, die ich für die Ewigkeit erhalten möchte. Willst du dich gegen diesen Todestrieb immunisieren??“ „Tod, Zerstörung!“ Er stößt das Weinglas um, und der Inhalt ergießt sich über den Tisch. „Du bist der Feind! Du und ich, wir beide sind die Feinde.“ Sein Gesicht verzerrt sich. Hass. Seine Faust stößt vor, zielt auf Baldurs Hals, und ich wette, wäre Jack nicht so betrunken, hätte er ihn erwischt und schwer verletzt, wenn nicht getötet. So reißt ihn die Wucht seines Hiebs vom Stuhl, an Baldurs Hals vorbei, er verliert das Gleichgewicht und landet in den Armen von Theo, der sich schützend vor seinen Bruder geworfen hat. Theo lässt ihn zu Boden gleiten. Da liegt der große Börsenhai, die Intelligenzbestie – und flennt. Was sollen wir davon halten? In gemeinsamer Anstrengung schaffen wir ihn in sein Bett und sitzen danach noch eine Weile ratlos beieinander. Unmöglich, unsere Reise mit ihm fortzusetzen. Da passt es gut, dass Baldur für Morgen unseren Flug nach Mexiko gebucht hat, ohne ihn zu informieren. „Eine Vorahnung.“ Wir verlassen das Hotel heimlich wie Diebe in der Nacht und fahren Richtung Flughafen. Bei der Rezeption liegt eine Nachricht für Jack mit der Telefonnummer eines befreundeten Arztes von einer amerikanischen Mayo Klinik. Nicht Rochester. Erleichtertes Aufatmen. In die Nähe Renatas möchte der Onkel diesen Verrückten nicht lassen; denn irgendwas stimmt nicht mit Jack. Das ist klar. Genauer, eine ganze Menge stimmt nicht mit ihm. Aber was? Er ist schwer gestört, und wir sind froh, ihn los zu sein. Ein wenig rührt sich das schlechte Gewissen; schließlich hat er uns um Hilfe gebeten. Aber unsere Verantwortung für das kulturelle und technische Erbe, unser Rettungswerk geht vor. Ach ja. Benni ist untröstlich über die Trennung. Dass er solch einen Narren an Jack gefressen hat, wer hätte das gedacht?
Mexiko ist mehrere Reisen wert, und Theo verspricht uns bei nächster Gelegenheit zu Ausgrabungen oder einem Archäologen Kongress mitzunehmen. In dieser Woche können wir uns nur um bekanntes Weltkulturerbe kümmern. Zur Einstimmung scannen wir die wichtigsten Ausstellungsstücke im Museo nacional de Antropologia, allen voran den Stein der fünften Sonne. Der Museumsbau steht auf der Liste der Schutzfilmprojekte ganz oben. Noch am ersten Abend informiert Baldur Spezialisten seiner Firma und den mayor von Mexico Stadt, was uns einen Empfang im Rathaus einbringt. Auch in Mexico haben sie von der unheimlichen Gefahr für Kunstschätze und Altertümer gehört und bangen um die Kostbarkeiten der indianischen Hochkulturen, natürlich auch um die Kirchen und Paläste der spanischen Eroberer. Alles Teil der mexikanischen Geschichte. Am nächsten Morgen steht eine Besichtigung der Sonnen- und Mondpyramiden von Teotihuacàn auf dem Programm. Unter Obhut eines mexikanischer Archäologen. Wir schätzen, er soll überwachen, was wir so treiben.
Der mexikanische Archäologe stellt sich als alter Freund und Kollege von Theo heraus, und beide fallen sich freudig um den Hals, helfen gemeinsam beim Scann- und Rettungsprogramm der folgenden Tage. Professor Juarez lässt es sich nicht nehmen, uns zu den wichtigsten Zielen unseres Rettungsplans zu begleiten: Palenque und Chichen Itza. Von Überwachung keine Spur. Palenque und Chichen Itza. Reicht es, nur die beiden zu retten? Natürlich nicht. Zum Glück ruhen noch viele Tempel unentdeckt unter Urwald. Sagt Theo. Ich stelle mir vor, unter jedem Hügel auf Yucatan ein Mayatempel. Warten nur darauf ausgegraben zu werden. Da würden wir nie fertig. Der Onkel beruhigt uns. „Für andere Kulturdenkmäler wie Monte Alban stehen Hubschrauber mit Sprühvorrichtungen für den Schutzfilm bereit. Wir haben die Nase vorn, so schnell wie wir die wichtigsten Schätze versiegeln und scannen kommen die Gangster mit dem einen Materiezertrümmerer nicht nach.“ Er ist sichtlich zufrieden mit sich. Aber - wie sagt das Sprichwort: Hochmut kommt vor dem Fall. Zuerst erreicht uns eine Nachricht aus der Mayo Klinik. Ausgerechnet beim gemeinsamen Mittagsmahl, und sie verschlägt uns den Appetit. „Sie ist fort, einfach fort, und die Ärzte wissen nicht wohin. Fragen, ob sie bei uns aufgetaucht ist.“ Der Onkel ist erregt aufgesprungen, schmettert sein Smartphon auf den Tisch und blickt aus dem Fenster. Als suchte er seine Tochter hinter dem Horizont Jetzt erst erfahren wir, dass Renata sich in den letzten Tagen bei ihm beklagt hat. Sie sieht keine Heilungsfortschritte, fühlt sich von den Ärzten und dem Klinikpersonal nicht verstanden. „Aber dass sie einfach abhaut. Damit habe ich nicht gerechnet. Jedenfalls hätte sie mich vorwarnen können.“ Theo: „Ihre Klagen waren vielleicht eine Vorwarnung.“ Baldur. „Meinst du?“ Jetzt wirkt er echt zerknirscht. Ich weiß, was Jenny jetzt sagen würde: „Männer! Null Intuition, was Frauen angeht...Trampeln auf ihren Gefühlen herum wie eine Herde Nashörner.“ Das alles im Ton abgrundtiefer Verachtung. Dann würde sie einen Augenblick überlegen, zu Theo herüber schielen, und wenn er zurück guckt. „Na ja, ein paar Ausnahmen gibt es.“ Den Onkel zählt sie jedenfalls nicht zu den Ausnahmen. In Baldurs Zerknirschung herein summt sein Smartphon. „Jenny am Apparat. Ratet mal wer neben mir steht? Renata. Unsere Mondprinzessin. Sie will wieder nach Hause.“ Nach Hause, wo ist das? Wir gucken uns ratlos an. „In unser Haus bei Assuan.“ Das ist Renatas Stimme, und sie klingt mächtig entschieden. „Bis ihr den Rückflug gebucht habt, bleibe ich bei Jenny. Wenn ihr noch nicht fertig seid mit eurem Programm oder noch keine Zeit für mich habt, zahlt sie den Flug für uns beide.“ Wir wissen, was das bedeutet. Wir müssen unser Programm abkürzen, und den Rest ein andermal erledigen. Zusammen mit den Mayaschätzen von Guatemala und Belize. Mit einem Seufzer verkündet der Onkel. „Wir fliegen übermorgen zurück, Ich kümmere mich gleich um sämtliche Tickets.“ Zwischenlandung ist in New York, wo wir Isa und Renata aufnehmen. Unsere Mutter, Calamity Jane, ist bei den Vereinten Nationen unabkömmlich. Warum, leuchtet wohl Jedem ein. Wegen der weltweit herrschenden Katastrophen. Eben.
Adieu Mexiko, wann sehen wir dich wieder? Willkommen, Renata, meine Mondprinzessin. Ich kann es kaum erwarten, dich wieder zu sehen und die Mund zu Mundbeatmung fortzusetzen. Ich liebe dich. Vor dem Einschlafen denke ich an Renata. Geboren in Deutschland, aber keine Deutsche, jedenfalls nicht, was man unter einer normalen Deutschen versteht. Die meiste Zeit in Ägypten, aber eine richtige Ägypterin ist sie auch nicht. Eine Deutschägypterin, also ein Mischwesen wie Undine. Renata, die Niljungfrau. Das Wortspiel gefällt mir. Ich sehe sie aus dem Wasser des Nil steigen, auf Zehenspitzen, weil jeder Schritt sie schmerzt wie im Andersenmärchen. Sie sucht Halt am Stamm einer Palme, schüttelt ihr nasses Haar im Sonnenlicht. Lächelt. Eine Wolke feiner Tropfen löst sich aus ihrem Haar, leuchtet golden im Strahl der untergehenden Sonne, verschmilzt mit dem Sand der Wüste hinter ihr, jetzt speit die Wolke feinen Sand aus, staubfeine Körner tanzen um ihr Gesicht, blutrotgefärbt von den letzten Sonnenstrahlen.
Ein neues Bild: Sie liegt ausgestreckt im Wüstensand, die Arme ausgebreitet, das Gesicht zur leuchtenden Wolke gewandt. Die Wolke erlischt. Und erwacht zu neuem Leben im Silberlicht des Mondes. Schwebt nun über ihr als feuchtweißer Schleier, der sich zu wirbelnden Mustern verdichtet, weiße Flocken bildet, Gesicht und Haare zudeckt. Es schneit. Die Palme ist eine Tanne, der silberne Mondglanz auf den Zweigen Schnee. Der Nil ist ein norddeutsches Gewässer, auf dem Eisschollen treiben. Schneeflocken decken Renatas Gesicht zu und bilden ihr Lächeln nach. Sie scheint glücklich. Der Traum hat mich verwirrt. Tante Marga schwört auf Träume. Behauptet, dass alle Träume eine Botschaft enthalten, die es zu entschlüsseln gilt.
Wie lautet die Botschaft für mich? Vielleicht kann Renata geheilt werden. Vielleicht kann sie dann das kühle deutsche Klima vertragen. Vielleicht kann sie sogar glücklich werden im kalten Deutschland. Glücklich mit mir.
*
Baldur Schindler an Dr. Robert Miller/ Mayo Klinik Rochester
Dear Bob Wir haben die Nachricht von Renatas Verschwinden vor einer Stunde erhalten, zum Glück meldete sich meine Schwägerin kurz darauf aus New York. Renata ist bei ihr und will zurück nach Ägypten. Sie gibt dem Behandlungskonzept keine Chancen, was ich persönlich sehr bedaure, weil es mich vor schwierige, in den Folgen unabsehbare Alternativen stellt. Da ich den Starrsinn meiner Tochter zur Genüge kenne, habe ich bereits die Tickets für unseren Rückflug gebucht und bitte herzlich, zu entschuldigen, wenn ich nicht mehr persönlich bei euch vorspreche. Ihr kennt die beunruhigenden Nachrichten aus Europa und Vorderasien zu den Zerstörungen von Kulturgütern. In diesem Zusammenhang darf ich Dir die Krankengeschichte eines jungen Mannes vorstellen (siehe Anhang), den ein seltsamer Zerstörungsdrang quält. Er wehrt sich mit allen Kräften, aber ihm ist, als würde ein blinder Wille dahinter stehen und ihn antreiben. Noch widersteht er. Ich empfehle ihn dringend der Behandlung in Eurem Institut. Yours sincerly Baldur Schindler Dr. rer nat. Dr. phil. Antwort Robert Miller an Baldur Schindler Dear Baldur, thanks for your message. Frau Schindler informierte mich kurz nach Dir, dass deine Tochter bei ihr ist und nicht zu uns zurück will. Wir müssen Renatas freie Entscheidung respektieren, zumal es -leider- nicht die erhoffte Besserung ihres Zustandes gab. Die entsprechenden Arztberichte werden Dir in den nächsten Tagen zugehen. Ich bin persönlich interessiert, welchen Weg Du jetzt mit ihr einschlagen willst, und werde euch weiterhin gern mit meinem Rat unterstützen. Zu dem von Dir erwähnten Fall von zwanghaftem Zerstörungswahn kenne ich eine interessante Ergänzung. Seit einem Monat behandeln wir zwei ähnlich gelagerte Fälle. Besonders interessant ein Elektroingenieur und Informatiker, der offenbar in einem Anfall von Wahnsinn sämtliche intelligenten Systeme seines Wohnhauses zerstört hat. Er selbst hatte zuvor eben dieses Haus vom Keller bis zum Dachboden vernetzt, dass es von einer Jury zum Prototyp künftigen Wohnens bestimmt wurde. Autonome Einheiten steuerten alles, von der Energie über Reinigungs- und Reparaturarbeiten zur Versorgung seiner Bewohner mit dem Lebensnotwendigen und darüber hinaus. Bereitstellung exzellenter Speisen und Getränke, Musik- und Literaturprogramme, Computerspiele, virtuelle Zerstreuung von höchster Raffinesse; Körperpflege. Einen Querschnittgelähmten, ja selbst einen ADS-Patienten hätte das Haus allein versorgen können. Kurz: die perfekte Bedürfnisbefriedigung. Und jetzt? Dieser hoch begabte Techniker hat in weniger als einer Stunde sein Lebenswerk zerstört. Kabel herausgerissen, empfindliche Sensoren verschmort. Die Steuerzentrale sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Alles kaputt. Mobiliar und Wände hat er geschont. Auch draußen ist von der Zerstörungsorgie nichts zu merken, bis auf den Satellitenschirm. Unbrauchbar gemacht. Wir werden eine interne Warnung an andere Kliniken herausgeben und auffällige Krankheitsbilder vergleichen. Neurologen sind da gefragt. Hoffen wir, dass es sich nur um zufällige Übereinstimmungen handelt. Andererseits dürfen wir nicht warten, bis eine Epidemie draus wird. Aids wurde anfangs auch unterschätzt. Ich erwarte deine Rückmeldungen und werde mich mit neuen Beobachtungen bei dir melden.
Sincerly Bob
Betrug. Elender Betrug. Sie haben mich im Glauben gelassen, wir würden gemeinsam zurück fliegen, First Class und Renata neben mir, höchstens eine Reihe zwischen uns, sodass sich unsere Blicke begegnen, wann immer wir wollen. Aber nein. Baldur hat getrennte Flüge gebucht, uns vier in die Business Class (immerhin) eines Fliegers nach München verfrachtet, für sich und Renata Assuan gebucht. Am New Yorker Terminal mussten wir uns trennen, und als sie uns zuwinkte, war mir, als hätte ich sie zum letzten Mal gesehen. Warum hat er das gemacht? Warum können wir nicht gemeinsam nach München fliegen?
Theos Erklärung, dass er mit Renata über ihre Behandlung sprechen will überzeugt mich nicht. Ich lasse mir nichts vormachen. Onkel Baldur, Theo und Jenny, sie alle wollen Renata und mich trennen. „Konzentrier dich auf das neue Schuljahr“, hat der Onkel beim Abschied gesagt. Mit anderen Worten: „Denk an Physik und Mathe, nicht an meine Tochter. Du kriegst sie sowieso nicht.“ Was hat er mit ihr vor? Will er sie an einen reichen Ägypter verheiraten wegen der Aufenthaltsgenehmigung? Kann ich mir nicht vorstellen. Aber irgend etwas plant er mit ihr.
Ich muss wachsam sein.