Alles gelogen I. von Stein und Eisen (17 +18)
17. Kapitel
Geheimnisträger
Mit einem hat der Onkel recht gehabt. Nach zwei Wochen Schule liegt alles, was mit Urlaub und Reisen zu tun hat, so weit zurück, als wären zwei Jahre vergangen. Die Anschläge auf internationale Sehenswürdigkeiten gehen weiter. Fast jede Woche passiert was. So schrecklich es ist, ich werde das Gefühl nicht los, die Welt gewöhnt sich daran wie nach den ersten Terroranschlägen in den Krisengebieten der Erde. Wenn es nicht gerade die Londoner U-Bahn trifft oder die eigene Familie oder mehr als 50 Menschen sterben ist der Anschlag kaum mehr als eine Meldung wert. In einer Fernsehdiskussion sagte erst gestern ein Gast, dass es genug antiken Schrott auf dem Erdball gebe, da komme es auf ein Stück mehr oder weniger nicht an und Architekten brauchten Platz, um darauf was Modernes zu bauen. Ein anderer: Zerstörung gehöre zum geschichtlichen Wandel, wie im hinduistischen Shivakult. Lauf der Geschichte. Das mit dem antiken Schrott hat Benni gefallen. „Haut weg den Scheiß, gibt sowieso zuviel davon“, sein Kommentar. Will er uns provozieren? Ist das unser Benni, der uns in Amerika so eifrig beim Sichern der Kunstschätze geholfen hat? Beim nächsten Anruf aus New York erzähle ich Jenny davon. „So so, es gibt genug davon. Sogar zuviel?“ wutschnaubte Jenny ins Telefon. „Erdbeben und Überschwemmung reichen wohl nicht, um unersetzliche Kulturdenkmäler zu zerstören. Hör auf mein Wort: Wir werden uns noch wundern, wenn diese Gangster ihre Methoden verbessern. Wir sind längst auf den Menschen gekommen. Auch von uns gibt es genug, vielleicht zu viele. Sollen wir uns deshalb durch Krieg und Völkermord vernichten? Oder die Tier- und Pflanzenarten. Es gab genug davon. Unzählige, also zu viele. Da kam es auf einige Tausend oder Millionen mehr oder weniger nicht an. Genug davon. Die amerikanische Wandertaube ist auf diese Weise ausgerottet, obwohl ihre Schwärme im 19. Jhdt noch den Himmel über Amerika verdunkelten. Ich fange besser gar nicht mit dem Aufzählen an, wovon es mal genug gab. Diese Volltrottel. Übrigens, richte Benni aus, ich werde ihn zu einem Praktikum in den Nürnberger Zoo schicken und danach ins Germanische Museum. Damit er Respekt lernt vor Natur und Kultur. Antiker Schrott, das lasst bloß nicht euren Vater hören.“
Gestern lag ein Brief an den Onkel in unserem Briefkasten, vielleicht der, auf den er gewartet hat: grauer Recycling Umschlag, sein Name in großen Druckbuchstaben, unsere Adresse. Benni und Isa wollen ihn sofort nach unserer bewährten Methode öffnen. Über Wasserdampf. Ich habe Skrupel und schicke eine Mail nach Assuan.
Die Antwort kommt prompt:
Öffne den Brief! Nur Du, Artur, darfst ihn öffnen. Gib ihn nicht weiter, sprich mit niemandem darüber und informiere mich über den Inhalt.
Dein Onkel
Wie soll ich es den anderen verschweigen? Sie werden die Nachricht auch lesen wollen. Es gibt nur einen Weg: über Wasserdampf öffnen, lesen, wieder zukleben und tun, als wäre das Postgeheimnis gewahrt. Alte Stasimethode.
Es hat geklappt. Benni und Isa fügen sich und fragen nicht weiter nach dem Brief, weil der Onkel einen Auftrag für beide hat, garniert mit einem Monatsticket der Bahn. Sie sollen unauffällig sein Haus mit Vorgarten beobachten - mindestens jeden zweiten Tag - und ihm jede Besonderheit mitteilen. Welche Besonderheit? Z.B. Spuren eines versuchten Einbruchs, Irgendwelche Botschaften, alle Art von Hinterlassenschaften, die nicht dahin gehören. Als Eingeweihte und Geheimnisträger haben sie sicher eine Nase dafür.
Das Wort „Geheimnisträger“ hat sie überzeugt. Während die beiden die Umgebung von Onkel Baldurs Haus auskundschaften, kann ich mich in Ruhe dem Brief widmen. Wasser erhitzen, ihn vorsichtig über Dampf halten, noch vorsichtiger die Klebebahn lösen. Geschafft. Bis hierher bin ich den Anweisungen gefolgt, beim Lesen muss ich passen.
Der Brief enthält nur eine Reihe unverständlicher Formeln und Skizzen. Einmal glaube ich Teile von einer Apparatur zu erkennen, die Baldur in seinem Labor aufbewahrt. Das war's schon. Insgesamt zu hoch für mich, und ich hoffe nur, Baldur kann was damit anfangen. Kann er. Mehr, er zeígt sich begeistert von meiner Schilderung, bittet mich, das Schreiben zu hüten wie meinen Augapfel, bis er es selbst in Empfang nehmen kann. Schon übermorgen. Er hatte sowieso seine Rückkehr in dieser Woche geplant, und der Brief kam zur rechten Zeit. Rechte Zeit wofür?
Vielleicht sind seine Pläne auch durch eine Entdeckung von Benni und Isa beschleunigt. Den Eingangsbereich hat er elektronisch gesichert, vielleicht auch mit einem System von Fallen überzogen. Farbfallen zum Beispiel. Würde mich nicht wundern, wenn Neugierige erfolglos aufgeben mussten und obendrein von Kopf bis Fuß im schönsten Königsblau prangen. Wir wissen, Baldur kann das und denken unwillkürlich an die drei verschleierten Ladys. Wie mag es ihnen gehen? Folgen sie gewissenhaft Baldurs Programm, das ihnen Geld und Ruhm einbringen wird? Keine Zeit. Benni und Isa sind uns im Augenblick näher. Die Beiden haben weiter gesucht und schließlich ein Loch in der Dornenhecke entdeckt, mehrere Zweige sind in Kniehöhe zur Seite gebogen oder gekürzt, so dass man ein Instrument hindurch schieben kann oder einen ganz kleinen Menschen im Schutzanzug. Schutz gegen die Dornen. Ein paar Haare musste er bei dem engen Durchgang lassen. Wozu die Anstrengung? Wahrscheinlich, um im Garten etwas niederzulegen oder zu entfernen.
Abwechselnd haben die Beiden durch das Loch gespäht und nichts entdeckt außer einem Hundehaufen. Der hat beide auf die richtige Idee gebracht: die Gangster waren nicht magersüchtig. Sie haben einen Hund abgerichtet und hinüber geschickt, und der musste beim Durchgang etwas von seinem Fell den Dornen überlassen.
Unser Trost. Der Onkel wird schon wissen, was fehlt oder was da nicht hingehört.
Theo amüsiert sich über den Hundehaufen, als wir davon erzählen: „Schätze der Hund hatte ein Problem. Benimmt sich wie ein Einbrecher mit schlechtem Gewissen. Übrigens eine Erkenntnis der Tiefenpsychologie: Nachdem sie den Tresor ausgeräumt haben, hinterlassen manche Diebe gern einen Haufen. Sozusagen zum Ausgleich für die Werte, die sie mitgehen ließen.“ Nach Theo soll es das Ergebnis falscher Sauberkeitserziehung sein. Wenn seine Eltern ständig um das Töpfchen herumtanzen und ihn überschwenglich für jedes große Geschäft loben, denkt der Sprößling, dass er einen besonderen Wert hervorgebracht hat und setzt Gold und Scheiße gleich. Geizhälse würden deshalb an Verstopfung leiden, weil sie alle Werte bei sich behalten wollen. Ich finde, man müsste manche Finanzhaie öfter auf dem Klo einsperren und sich selbst überlassen. Ohne jeden Zwang. Warum nicht. Vielleicht kommen sie dann geläutert heraus. Theo macht das Thema Spaß: „Auf dem Abort sind schon umwälzende Ideen entstanden. Damit steht er dem Traum in nichts nach. Lest dazu mal Brecht: Orjes Traum.
Ich: „Vielleicht hatte Brecht Verdauungsprobleme.“
Theo: „Mag sein. Thomas Mann hatte sie definitiv und füllte viele Tagebuchseiten damit. Sagen wir es so: Ihm war nichts Menschliches fremd.“
Der Onkel lädt uns zu sich ein, nachdem er alle Sicherheitssysteme im Eingangsbereich kontrolliert hat. Führt uns einige Aufnahmen der Überwachungskamera vor. Nichts Auffälliges, Passanten, spielende Kinder, der Briefträger - bis ... „Da!“ rufen wir wie aus einem Munde. Zwei schattenhafte Gestalten sind für einige Sekunden zu sehen, machen sich an der Hecke zu schaffen, wo jetzt das Loch klafft. Sie tragen Baseballkappen, Jacken mit hoch geklappten Kragen, soweit sich das im Dämmerlicht erkennen lässt. Klar, richtige Einbrecher kommen immer in der Dämmerung und vermummen sich, so gut es geht, damit sie keiner hinterher identifizieren kann. Wir sind enttäuscht. Außer zwei Schattenbildern und einem Hundehaufen haben sie keine Spuren hinterlassen. Eine Probe des Hundekots wurde sogar auf neuartige gefährliche Keime untersucht. Nichts.
Es war und blieb ein Haufen Hundescheiße.
Der Onkel ist trotzdem zufrieden. „Vergessen wir den Hundedreck. Kein Grund zur Sorge. Sie haben es nicht mal geschafft, ein paar Äpfel vom Trojanischen Pferd in meinen Garten zu schmuggeln, geschweige denn das ganze Pferd“, feixt der Onkel. Er klopft gegen die Hauswand. „Keine Technik kann diese Wände zerstören, geschweige denn Unbefugte eindringen lassen. Nicht mal der Mauerspecht, den sie mir gestohlen haben, schafft das. Mein Haus wurde als Erstes mit dem Schutzfilm versehen: eine uneinnehmbare Festung. Sagt euren Eltern, morgen komme ich, euer Haus zu versiegeln. Sicher ist sicher.“
Ich habe es am Abend Theo erzählt, auch den Scherz mit den trojanischen Pferdeäpfeln. Theo darauf: „Auch das uneinnehmbare Troja wurde zerstört. Mit List. Die Sache mit dem Trojanischen Pferd sollte uns eine Warnung sein“, und wie Lehrer Lämpel droht er mit erhobenem Zeigefinger: „Vielleicht denkt Baldur inzwischen über seinen Scherz mit den trojanischen Pferdeäpfeln nach. Womöglich eine Warnung aus dem Unterbewusstsein.“
Falls ihn sein Unterbewusstsein wirklich gewarnt hat, fehlte ihm jedenfalls die Zeit zu reagieren und rechtzeitig Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Seinen Brief hatte er bei uns vergessen, was sich hinterher als Glücksfall erweisen sollte. Nicht auszudenken, wenn sie den gekriegt und verstanden hätten. „Es wäre der Untergang unserer Welt gewesen, wie wir sie lieben.“ Originalton Theo.
18. Kapitel
Wer vom Rathaus kommt, ist immer schlauer
Beliebte Redewendung,
Synonym für:
Kann ich etwa hellsehn? /Das konnte keiner ahnen /oder: Hätten wir's nur eher gewusst...
Baldur ist am nächsten Tag nicht gekommen. Er hat sich nicht abgemeldet.
Sein Anrufbeantworter ist abgeschaltet.
Seit vier Tagen sind wir ohne Nachricht.
Vier Tage haben wir uns gefragt: Was macht Baldur?
Will er nicht gestört werden, oder ist er verreist? Vielleicht hatte er einen Unfall, liegt bewusstlos in der Klinik. Wir machen uns echt Sorgen. Jenny hat in drei Kliniken angerufen: Kein namenloser Patient.
Theo war an seinem Haus. Alles zu, soweit er sehen konnte die Rollläden hinunter gelassen, die Sicherheitssysteme intakt; keine Chance, hinein zu gelangen. Vielleicht liegt Baldur drinnen, bewusstlos oder tot. Ausgerutscht, die Treppe hinunter gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen. Er wäre nicht der Erste, dem sowas passiert. Ob wir die Polizei verständigen sollen? Die werden uns auslachen oder – wenn der Schlüsseldienst nicht helfen kann – den Eingangsbereich sprengen.
Wir sitzen und beratschlagen, als das Telefon läutet. Die Klinik. Da wurde tatsächlich ein Mann eingeliefert, auf den die Beschreibung passen könnte. Keine äußeren Verletzungen, aber bewusstlos. Spaziergänger haben ihn auf einer Bank im Park gefunden, daneben eine leere Schnapsflasche. Ein Säufer haben sie gedacht, und das glaubten zuerst auch die Männer vom Rettungsdienst, den irgendwer verständigt hat. Spät, fast zu spät, wie der Stationsarzt sagt, und wir möchten bittschön kommen und ihn identifizieren. Theo blickt von einem zum anderen, sein Blick bleibt bei mir hängen. "Du kommst mit!"
Eine Stunde später stehen wir an Onkel Baldurs Krankenbett. Blass und spitznasig liegt er da, man sieht ihn kaum atmen. Die Blutuntersuchung weist auf einen Drogencocktail hin, dazu eine Überdosis K.O. Tropfen. Darum die tiefe Bewusstlosigkeit. Die Polizei wurde informiert, und die hat einen Sack voll Fragen an uns. Ob er Kontakt zu kriminellen Kreisen oder zur Rotlichtmeile hat?
“Na, hörn Sie mal“. Mit wem er zuletzt gesehen wurde?
„Mit uns natürlich!“
Wir erzählen von dem Einbruchsversuch, und dass sein Haus zum Glück gesichert ist. Die Sache mit dem Einbruchsversuch interessiert die Polizei, und man wundert sich, warum der Onkel bei uns keinen Zweitschlüssel hinterlegt hat. „Das ist doch üblich.“
„Bei meinem Onkel ist nichts üblich“, meine Antwort, bevor Theo zu einer langatmigen Erklärung ansetzen kann. Wieder daheim zerbrechen wir uns weiter den Kopf über Baldur und seine Feinde. An einen Zufall wollen wir nicht glauben. Wetten, es handelt sich um die gleichen Gangster, die bei ihm einbrechen wollten.
Als wir den Onkel am nächsten Tag besuchen, ist er wach, genauer halbwach, ganz genau: immer noch weggetreten, als könnte er nicht bis drei zählen. „Was kann ich für Sie tun?“ fragt er, als wäre er Arzt und wir die Patienten. Grinst dazu dämlich, was nicht zu einem Arzt, geschweige denn zu unserem genialen Onkel passt. Der Stationsarzt steht mit ernster Miene neben dem Bett.
Zu uns: „Passen Sie auf!“
Zum Onkel: „Wie heißen Sie?“
„Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.“ Kichern.
„In welcher Stadt wohnen Sie?“
„In der Stadt, deren Namen niemand kennt.“ Glucksen.
„Welchen Monat schreiben wir?“
„Den Monat in dem Weihnachten und Ostern zusammen fallen.“
Isa zupft mich am Arm und deutet mit dem Zeigefinger auf ihre Stirn. Ich weiß, was sie damit sagen will und was ich auch denke. Onkel Baldur hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, ist komplett von der Rolle, gaga. Hoffentlich kein Dauerschaden. „Wir möchten Ihnen einige Fragen stellen“, sagt der Stationsarzt. Der Onkel nickt heftig.
„Fragen Sie nur, mein Lieber. Ich bin jederzeit bereit, Ihnen mit meinem Wissen zu dienen. Eine Selbstverständlichkeit unter Freunden.“
„Baldur“, Theo fasst Baldurs Hand: „Hast du auch anderen mit deinem Wissen gedient? Sag es uns.“ So besorgt habe ich meinen Vater schon lange nicht gesehen. Kein Wunder. Er sieht Gefahren, von denen sich der Stationsarzt in seinen schlimmsten Träumen keine Vorstellung machen kann.
Der sagt dann auch im typischen freundlich-autoritären Arztton: „Bitte, regen Sie den Patienten nicht auf! Nehmen Sie Rücksicht auf seinen labilen Zustand!“
Der Patient ist noch nicht fertig:
„Sie waren so freundlich, kluge Leute und meine Gäste. In meinem Labor haben wir hochinteressante Fachgespräche geführt...“ Zufriedenes Lächeln. Der Patient schließt die Augen, ist nicht mehr ansprechbar, während Theo und ich uns entsetzt anschauen. Isa glotzt verdutzt, hat noch nicht kapiert, was das heißt.
„Aber“, sagt sie, „aber sein Haus ist verriegelt und verrammelt. Da kommt keiner rein. Hat Onkel Baldur selbst gesagt.“ Hat er. Keiner kommt da rein außer Baldur – und seine Gäste. Mir geht ein Licht auf. Ach was, eine ganze Lichterkette, eine Supernova.
Onkel Baldur ist der Trojaner. Ihn haben sie mit irgendwelchen Drogen betäubt und gefügig gemacht. Er selbst hat alle Sicherungen abgeschaltet und sie in sein Allerheiligstes, sein Labor geführt. Preisfrage: Was haben sie da unten gesucht?
Wir müssen uns so schnell wie möglich Klarheit verschaffen. Ich ahne es, das Überleben unserer Zivilisation kann davon abhängen. Nächste Frage: Wie ging es weiter? Ich bin mir sicher: Zusammen mit den Gangstern hat er das Haus verlassen und alle Sicherungen und Alarmanlagen wieder aktiviert. Nachdem sie hatten, was sie von ihm wollten, haben sie ihm noch 'ne Dosis verpasst und ihn mit der Schnapsflasche im Park abgelegt. Wie einen versoffenen Landstreicher. Kein Wunder, dass alle erst so spät geschnallt haben, was mit ihm los war. Er hätte sterben können.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Wir behandeln alle Arten von Vergiftungen mit großem Erfolg. Ihr Bruder wird bald wieder der Alte sein.“
Keine Sorgen! Der hat ja keine Ahnung, warum wir besorgt sind.
Ich kombiniere.
Lösung 1. Der Arzt hat recht. Baldur ist fast wieder der Alte und wird heute Mittag entlassen. Es gibt keinen Grund zur Sorge.
Lösung 2. Ich habe auch recht: Baldur ist der Trojaner, und seit er das ahnt, hält ihn nichts mehr in der Klinik. Wir sorgen uns. Und wie!
Theo und ich holen ihn ab und bringen ihn zu seinem Haus. Nur Theo und ich. Jenny kommt nicht mit. Isa hat Nachmittagsunterricht und Benni immer noch Kopfweh. Den dritten Tag schon. Gestern kam der Hausarzt, hat nichts gefunden. Wenn sich das Kopfweh nicht bessert, muss er in die Röhre. Höchste Zeit, dass sie finden, was mit ihm los ist, denn seit einigen Tagen spinnt mein kleiner Bruder. Hat in einem Wutanfall auf der Spielkonsole seines Computers rumgetrampelt, die Maus raus gerissen und mir an den Kopf geschmissen. Fehlte noch, dass er in Baldurs Labor was kaputt macht.
Als wir am Haus ankommen, wirkt äußerlich alles unverändert. Der Onkel beugt sich über den Iris Scanner am Tor und winkt uns, ihm zu folgen. Er entsperrt eine weitere Sicherung an der Haustür, drückt zusätzlich einen Knopf seiner Fernbedienung, und die Tür öffnet sich. Er blickt sich im Flur um. Nichts. Durchschreitet das Esszimmer, wir hinterher. Nichts. Er wird schneller, unruhiger. Steht vor der Tür zur Kellertreppe, die hinunterführt zu seinem Labor, drückt ungeduldig auf einige Knöpfe, flucht (sowas kennen wir nur von Jenny), und als sich die Tür öffnet, das Licht aufflammt, nimmt er die Stufen so schnell, dass wir ihm kaum folgen können.
Nun die Labortür. Sie schwingt zur Seite, wir stehen auf der Schwelle und „alles o.k.?“ frage ich.
„Scheint so.“ Der Onkel mustert die Geräte, eines nach dem anderen, und wir folgen seinem Blick. Im Abzug die Glaskolben, dazu Bunsenbrenner und der Magnetrührer für chemische Experimente, auf den Regalen das Nachfolgemodell seines Mauerspechts, für Fremde nicht ohne weiteres als solches erkennbar. Eher mit einer Digitalkamera zu verwechseln. Schlau. Ebenso der 3D Scanner und der Transporter. Drei, vier Geräte, von denen ich keine Ahnung habe, daneben Teile einer unbekannten Maschine. Sieht aus, wie frisch vom 3 D-Drucker ausgespuckt. Der Drucker steht an der Wand, neben dem großen Bildschirm, hat die Maße eines mittleren Schranks und ist vorne verglast, damit man den Fortschritt des Druckprozesses verfolgen kann. Alles wie gehabt bis auf … „Der Dublikator. Wo ist der Dublikator?“
Der Platz, wo der Doppler stand, ist leer. Das unersetzliche Gerät verschwunden. Gestohlen. Der Onkel lässt sich auf einen Stuhl fallen, ringt die Hände, schlägt sie dann vors Gesicht. Ich versuche ihn zu trösten. „Du hast gesagt, von jedem Gerät gibt es eine Kopie in deinem Depot. Wir fahren hin und holen es.“ Jetzt nimmt er die Hände vom Gesicht und guckt mich an, als wäre ich nicht recht bei Trost.
„Artur, denk mal nach! Das ist der GAU, der größte annehmbare Unfall. Eine Katastrophe. Stell dir vor, welches Unheil die Kombination von Materiezertrümmerer und Dublikator anrichten kann. Verstehst du? Sie gehen in die Massenproduktion. Innerhalb weniger Tage haben sie ein Heer von Mauerspechten aufgestellt. Noch einige Tage und sie lassen sie auf die Schätze unserer Welt los. Burgen, Schlösser, Kirchen, Museen, Baudenkmäler aller Art und die Schätze darin.
Sie werden sich nicht nur auf Deutschland und Europa beschränken, sondern ihr Zerstörungswerk über alle Kontinente ausbreiten. Wenn wir sie nicht stoppen, werden sie alles zerstören, was unser Leben ausmacht. Das Ende unserer Zivilisation und Kultur.“
„Aber Deine Firma, die mit dem Schutzfilm?“
„Du meinst Protector? Sie arbeiten bereits rund um die Uhr. Aber das Verfahren kostet Zeit wie jede Schutzmaßnahme. Zerstören geht schneller als aufbauen.
Wenn wir nur wüssten, wer dahinter steckt und wie sie aussehen...“, Baldur schlägt sich vor die Stirn, lacht.“ Nichts leichter als das. Ich Idiot hab' die Videoüberwachung vergessen. Muss eine Folge des Dachschadens sein.“ Er löst ein Signal aus, nennt ein Datum, kommandiert: „Abspielen!“ Zu uns: „Aufgepasst! Ich kontrolliere den Tag nach eurem letzten Besuch.“
Der Bildschirm flammt auf, zeigt den Eingangsbereich. Baldur schaltet auf schnellen Vorlauf, wir schauen gebannt. „Da!“ Er stoppt das Bild, legt einige Sekunden Rückwärtsgang ein, dann die Wiedergabe. Die Uhr zeigt Mitternacht, und wir halten den Atem an. So spät noch unterwegs?
Drei Gestalten nähern sich dem Gartentor im Licht der Straßenlaterne, in der Mitte zweifellos der Onkel, wir erkennen sein grünes Jackett. Jetzt blinzelt er direkt ins Licht der automatischen Beleuchtung, seine Begleiter wenden die Köpfe ab, als scheuten sie das Licht. Er öffnet weit den Mund. Was tut er?
Im Labor schaltet der Onkel die Tonwiedergabe und wir hören ihn singen: „Es gibt kein Bier auf Hawaiii, es gibt kein Biiiier. Drum fahr ich nicht nach Hawaii, drum bleib ich hiiiiiiieer“. Laut und misstönend, wie peinlich.
Wir sehen ihn zwischen den beiden Fremden von einer Seite zur anderen schwanken, etwas in seinem Jackett suchen, und mit einem triumphierenden „Ha!“ reckt er einen Gegenstand empor. Sieht aus wie eine Fernbedienung.
Er lallt: „Hier meine Freunde, das Sesam öffne dich“, beugt sich über den Iris -Scanner, und das Tor öffnet sich für die drei. Vor der Haustür das gleiche Schauspiel, nach weniger als 30 Sekunden schließt sich die Haustür hinter ihnen. Sie sind im Haus. Wir begreifen. Sie mussten keine Mauern sprengen, kein Türschloss ausbauen, um ins Haus zu gelangen. Der Hausbesitzer selbst schloss für sie auf und führte sie hinein.
„Oh, ich Riesenross“, stöhnt der Onkel, und wir können ihm nicht widersprechen. Kein Zweifel; er selbst ist der Trojaner.